Zeitzeugenberichte und ErinnerungenKartoffel und Zichorie
Woher kamen die ersten Kartoffeln nach Schüllar-Wemlighausen? Sie kamen über Irland nach Europa. Der deutsche Name kommt aus dem Italienischen, da sie Ähnlichkeit mit dem Trüffelpilz, der auch unterirdisch wuchs, hat, nannte man sie „Tartuffo“. Dieser Ausdruck wurde im Deutschen zu „Kartoffel“. 1771 gestattete der Graf, dass das Kloster Grafschaft in Wittgenstein 50 bis 60 Scheffel Kartoffeln kaufen durfte. (Es sind 300–320 Jahre her, dass die Kartoffel in Preußen allgemein angebaut und zu einem wesentlichen Bestandteil unserer Ernährung wurde).
Graf Casimir von Schloss Berleburg hatte seine Sturm-und-Drang-Jahre in Paris verbracht und dort schon um 1712 die Kartoffel kennengelernt. Wahrscheinlich hatte er sie von dort mitgebracht und unter seinen Untertanen bekannt gemacht. 1764 liegen bereits Ertragszahlen aus allen Dörfern der Grafschaft Wittgenstein-Hohenstein über die Kartoffelernte vor. Bis 1800 hat sich der Ertrag bereits verdreifacht. Trotz Naturkatastrophen und witterungsbedingten Schwierigkeiten ist die Kartoffel aus der Region nicht mehr wegzudenken.
1845 tauchte plötzlich aus dem Nichts ein Pilz auf den Äckern Westfalens auf: die „Krautfäule“. Weite Teile der Ernte wurden zerstört. Der Pilz soll 1842 von der Ostküste der Vereinigten Staaten mit Transportschiffen nach Europa gekommen sein. Das Land stand vor der letzten Hungerkrise in Friedenszeiten. Am katastrophalsten war Irland betroffen. Dort starben mindestens eine Million Menschen an Hunger und den Folgen. Auch in Deutschland und Mitteleuropa kam es zu einer schweren Ernährungskrise.
1844/1845 waren ein nasser Herbst und ein harter Frostwinter. Dies bescherte eine katastrophale Getreide- und Kartoffelernte. Die Preise schossen binnen Wochen nach oben. Zur Jahreswende zeichnete sich eine schwere Hungerkrise ab, die sich im Folgejahr weiter zuspitzte. Ungünstige Witterung, erneut schlechte Ernten und abermals schwere Einbußen bei den Kartoffeln ließen weite Teile des Landes im Elend versinken. Epidemien gingen um, die Zahl der Sterbefälle stieg, und wer konnte, suchte das Weite. Die Auswandererschiffe ins „gelobte Land“ waren überfüllt.
Im Sommer 1938 wurde zum ersten Mal im Wittgensteiner Land über den Kartoffelkäfer berichtet. Vom Landrat wurden in allen Orten des Kreises Kartoffelkäfersuchen durch die Bevölkerung angeordnet. Von dieser Zeit an war es verpflichtend, die auftauchenden Käfer während des Wachstums einzusammeln. Ganze Schulklassen mussten helfen und bekamen hierfür gelegentlich auch etwas zu essen. So konnte der Käfer viele Jahre in Schach gehalten werden. Heute geht dies nur noch mit Chemie.
In Schüllar-Wemlighausen gibt es keine großen Kartoffeläcker mehr. Man findet nur noch ein paar Reihen in Gärten. Wenn wir heute bei unserer dampfenden Kartoffelschüssel sitzen oder bei einem Gericht wie Reibeplätzchen, Kartoffelklößen, Stampfkartoffeln oder Kartoffelpüree, können wir uns kaum vorstellen, wie es war, als es noch keine Kartoffeln gab und unsere Vorfahren sich von Hafermehlsuppe, Brot und Gemüse ernährten.
Da Fleisch und Wurst vor dem 17. Jahrhundert rar und teuer waren, war die Lebenshaltung unserer Vorfahren sehr anspruchslos. Die erste Mahlzeit bestand oft aus Hafermehlsuppe mit trockenem Roggenbrot oder Dickmilch. Mit dem Anbau der Kartoffeln wurde die Lebenshaltung im Kreis Wittgenstein langsam besser. Es gab mittags Brühkartoffeln und abends Quellkartoffeln, dazu Dickmilch. Vor 150 Jahren gab es zu Quellkartoffeln nur Zwiebeln mit Salz und Pfeffer.
Die abends übrig gebliebenen Kartoffeln wurden morgens gebraten, um Brot zu sparen. Brot war knapp, da die landwirtschaftlichen Erträge gering waren. Hier zeigt sich die Bedeutung der Kartoffel. Ihre Beliebtheit beweisen die alljährlichen Kartoffelbratfeste.
Vor hundert Jahren zählte fast jeder Haushalt im Dorf zu den Selbstversorgern. Jede Familie war froh, im Frühjahr ein Stück Acker pflanzen zu können, um im Herbst genügend Vorrat zu haben. Bauern hatten die größten Ernten und konnten Kartoffeln an Stadtbewohner verkaufen. Viele hielten auch Muttersauen, die zweimal im Jahr Ferkel bekamen – dafür brauchte man noch mehr Kartoffeln.
Um größere Vorräte zu verarbeiten, wurden sie ab den 1950er bis in die 1970er Jahre mit einem Kartoffeldämpfer der Raiffeisengenossenschaft eingekocht. Der Dämpfer fuhr von November bis Dezember von Hof zu Hof. Für die Kinder war dies ein besonderes Ereignis, da sie die gegarten Kartoffeln essen durften.
Die Kartoffelernte war stets mühsam. Erst wurden Ochsen und Pferde eingesetzt, dann kleine Traktoren. Flüchtlingsfamilien halfen nach dem Krieg mit. Als die Kartoffeln anderswo einfacher und günstiger angebaut wurden, schrumpften die Felder im Dorf. Schließlich verschwanden die vielen Menschen, die früher auf den Feldern gearbeitet hatten.
Auch Kaffee gab es schon, aber er sah anders aus und schmeckte anders. Er wurde aus Gerste oder Korn gebrannt, zusätzlich kam die im Garten gezogene „Zigurje“ hinzu. In Wemlighausen nannte man ihn „Fletcheskaffee“. Die Schalen- und Streureste nannten sich „Fletche“. Die Zichorienwurzel wurde gedörrt und später verarbeitet.
Bohnenkaffee gab es, aber er war teuer. Man kaufte ihn im Dorfladen als Rohbohnen. Für Besuch wurde schnell „einer gemahlen“. Kaffee galt als Arznei nach einem harten Arbeitstag.
Quellen: Zeitschrift Wittgenstein, Bd. 23/1959, Heft 2 und Bd. 24/1960 Heft 1, ENOS Buch von Klaus Homrighausen
